Buch Review: Hillbilly Elegy
29.07.2025
Zusammenfassung
Kritische Rezension von 'Hillbilly Elegy' - Vances kontroverses Memoir, das zum Schlüssel für das Verständnis von Trumps Amerika wurde.
TL;DR (Kurzfassung)
“Hillbilly Elegy” ist ein autobiografischer Erfahrungsbericht des amtierenden US-Vizepräsidenten J.D. Vance. Dieser beschreibt darin seine Kindheit und Jugend in einer verarmten Familie aus der Arbeiterklasse des amerikanischen Rust Belt. Das Buch zeigt die düsteren Folgen des wirtschaftlichen Niedergangs für die Menschen in den Appalachen und die konkreten Auswirkungen der Deindustrialisierung Amerikas.
Vance beschreibt dabei seine eigenen schmerzlichen Erfahrungen in diesem Milieu und wie er dem entkommen ist. Von einer drogensüchtigen Mutter über die Marines zum Jurastudium in Yale. Dabei versucht er seine eigenen persönlichen Erfahrungen mit soziologischen Beobachtungen zu einem Gesamtbild zu formen und daraus indirekt politische Schlussfolgerungen abzuleiten.
Warum ich das Buch gelesen habe
Mich interessierte, wie aus J.D. Vance, einem Mann, den ich zuvor nur aus den politischen Nachrichten kannte, der Hoffnungsträger der amerikanischen Rechten werden konnte. Wie erklärt sich das Paradox, dass Millionen verarmter Amerikaner erneut lieber einen Milliardär wählen als der etablierten Politik zu vertrauen?
Besonders interessant dabei war für mich der größere Kontext: Wie prägt die Deindustrialisierung und der brutale Wandel von einer Produktions- zu einer Tech- und Dienstleistungsökonomie die politische Landschaft? Welche Menschen werden dabei zurückgelassen und wie zeigt sich ihre Wut politisch?
Das Buch verspricht Einblicke in die Mechanismen, wie aus wirtschaftlichem Niedergang kulturelle Identitätskämpfe werden. Wie Silicon-Valley-Milliardäre wie Peter Thiel gezielt in Figuren wie Vance investieren, um politische Narrative zu formen und langfristig Einfluss auf den öffentlichen Diskurs zu nehmen.. Wie die Rechte geschickt mit Opfernarrativen arbeitet, während sie gleichzeitig DEI und "Woke-Politik" als Opfermentalität brandmarkt.
Kurz: Ich wollte verstehen, wie Amerika von der Fabrikhalle zum Kulturkampf kam, was das für die Zukunft des Landes bedeutet und inwiefern diese Mechanismen auch in Europa zu sehen sind.
Worum geht’s im Kern?
- Kultur vs. Ökonomie: Vance argumentiert, dass die Probleme der weißen Arbeiterklasse vor allem kultureller Natur sind und weniger ökonomischer. Er sieht eine zunehmende Kultur der Verantwortungslosigkeit, in der Menschen sich als Opfer externer Faktoren sehen, anstatt selbst Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen
- Eigenverantwortung: Das Buch vertritt die Ansicht des American Dream, dass es jeder schaffen kann erfolgreich zu werden, wenn er sich nur genug anstrengt. Wenn Vance es selbst aus diesen schwierigen Verhältnissen schafft, warum sollten es dann andere nicht schaffen?
- Misstrauen gegenüber Eliten: Ein wiederkehrendes Merkmal der Hillbilly-Kultur ist das Misstrauen gegenüber der Regierung und Institutionen. Vance selbst beschreibt, wie er sich selbst in Yale zwischen zwei Welten zerrissen fühlte und zeigt, wie unterschiedlich und misstrauisch die Arbeiterklasse gegenüber der Oberschicht ist
Stärken des Buches
- Authentizität: Vance berichtet sehr persönlich und authentisch über sein Aufwachsen in einer problematischen, oft übersehenen Bevölkerungsschicht. Er durchbricht das romantisierte Bild und zeigt schonungslos auch die dunklen Seiten seiner Community: Ein Tabubruch von innen
- Kulturelle Übersetzung: Vance fungiert als Dolmetscher zwischen zwei Welten. Seine Beschreibungen der Fremdheit in Yale (welche Gabel? welcher Dresscode?) machen unsichtbare und nicht offensichtliche Klassenbarrieren sichtbar
- Zeitdokument: Das Buch gibt der Frustration einer Bevölkerungsschicht eine Stimme, die sich von Obama-Amerika vergessen fühlte. Unabhängig davon, ob man Vances Deutungen teilt, spiegelt dieses Buch die Stimmung der weißen Arbeiterschicht sehr gut wider
- Emotionale Ambivalenz: Vance zeigt im Laufe des Buches eine Vielzahl widersprüchlicher Gefühle, wie Stolz, Hass und Scham gegenüber Herkunft und Kultur und bringt so ein deutlich komplexere Lage herüber als oft angenommen.
Schwächen und Kritik
- Rückblickende Perspektive: Durch den Hintergrund einer erfolgreichen Person, die es aus dem Milieu geschafft hat, wird die Perspektive verzerrt. Niederlagen werden zu Lektionen und Zufälle werden zu Schicksalen umgedeutet. Diese nachträgliche Perspektive macht es zu einfach, “Erfolgsfaktoren” zu konstruieren
- Verallgemeinerung: Der Untertitel "A Memoir of a Family and Culture in Crisis" verrät bereits Vances Anspruch, von seiner Familie auf eine ganze Kultur zu schließen. Genau hier liegt das Problem: Ein Einzelschicksal, so authentisch es sein mag, kann nicht stellvertretend für Millionen Menschen stehen. Vances spezifische Erfahrungen (seine rettenden Großeltern, sein Weg zu den Marines, sein Talent) sind gerade nicht typisch, sondern die Ausnahme. Indem er seine Erfolgsgeschichte als Beispiel nimmt, unterschlägt er die Vielfalt der Schicksale und Gründe, warum andere es nicht "geschafft" haben
- Rassismus als blinder Fleck: Vance fokussiert ausschließlich auf die weiße Arbeiterklasse. Dabei wurden schwarze Arbeiter von denselben ökonomischen Kräften oft noch härter getroffen. Diese Auslassung macht seine Analyse unvollständig und unterschlägt systematische Unterschiede zwischen weißen und schwarzen Arbeitergemeinschaften
Einordnung & Kontext
Das Buch erschien 2016 mit perfektem Timing, kurz vor Trumps erstem Wahlsieg. Über Nacht wurde "Hillbilly Elegy" zur Pflichtlektüre für alle, die das politische Erdbeben verstehen wollten: Warum wählte die weiße Arbeiterklasse einen Milliardär?
Medienhype und Kontroverse: Das Buch landete auf allen Bestsellerlisten, Vance tingelte durch TED-Talks und Talkshows, 2020 folgte die Netflix-Verfilmung mit Glenn Close. Doch die Kritik war ebenso heftig wie der Erfolg: Linke warfen ihm "Poverty Porn" vor, was bedeutet, Armut als Entertainment für die gebildete Mittelschicht auszunutzen. Rechte hingegen feierten ihn als Beweis dafür, dass Faulheit und Opfermentalität das wahre Problem seien.
Vances spektakuläre Wendung: Während Vance 2016 noch deutlicher Trump-Kritiker war und ihn sogar mit Hitler verglich, wandelte er sich zunehmend zum Unterstützer. Zuerst die offene Unterstützung bei den Senatswahlen in Ohio, dann 2024 die bisherige politische Krönung: Vizepräsident unter Trump. Ein bemerkenswerter politischer Turnaround.
Learnings & Transfer
Mindset und Struktur: Vance zeigt eine unbequeme Wahrheit, dass Opfermentalität tatsächlich lähmen kann. Wer nur auf bessere Umstände wartet und die Verantwortung auf externe Faktoren schiebt, verpasst die Chancen, die er trotz widriger Umstände hat. Aber das darf nicht zur Ausrede werden, strukturelle Probleme zu ignorieren. Beides ist wahr: Individuelle Einstellung ist wichtig und die Spielregeln sind für viele von Anfang an unfair. Die Gefahr liegt darin, nur eine Seite zu sehen.
Macht folgt dem Kapital: Vances Karriere (Buch → Thiel-Finanzierung → Politik) ist ein sehr akkurates Beispiel für moderne politische Einflussnahme. (Tech-) Milliardäre investieren gezielt, um ihre Agenda durchzusetzen. Die wichtige Frage ist immer: Wer profitiert davon, wenn diese Geschichte erzählt wird?
Deindustrialisierung verstehen: Was abstrakt "Strukturwandel" heißt, bedeutet konkret: zerstörte Familien, Drogensucht, Perspektivlosigkeit. Das Buch macht greifbar, wie der Verlust von Industriearbeitsplätzen eine ganze Gesellschaftsschicht zerreibt. Wenn die Fabrik schließt, verschwindet nicht nur der Job, es kollabiert die gesamte soziale Infrastruktur einer Region. Die stolze Mittelschicht wird zur vergessenen Unterschicht. Diese Demütigung und Wut führt unweigerlich zu einem Wunsch nach radikalen politischen Veränderungen.
Neue politische Währung: Hillbilly Elegy steht für einen Trend: Die persönliche Geschichte und das selbstbewusste Auftreten werden zur Eintrittskarte in die Politik. In einer polarisierten Gesellschaft zählt nicht mehr, wer die besseren Argumente hat, sondern wer glaubhaft wirkt. Authentizität ersetzt Expertise. Wer seine Brüche, Niederlagen und Herkunft erzählbar macht, gewinnt Vertrauen, oft mehr als derjenige, der einfach nur recht hat.
Verbindungen zu anderen Ideen
René Girard: Mimetisches Begehren und Sündenbocklogik: Vance beschreibt die Hillbillys als eine Gruppe, die sich selbst als „hart arbeitend, aber unfair abgehängt“ sieht, voller Neid, Scham und Aggression. Die kulturelle Wut richtet sich dabei nicht gegen die Ursache (z. B. Globalisierung), sondern gegen die sichtbaren Stellvertreter: „die Woken“, „die Eliten“, „die Städter“. Dies ist eine klassische girardsche Dynamik: Die mimetische Rivalität kippt in kollektive Projektion, wobei der politische Gegner zum moralischen Feind wird.
Peter Thiel: Der Mentor und seine Philosophie: Thiels Unterstützung für Vance ist kein Zufall. Beide teilen die Überzeugung, dass Amerikas Probleme weniger in Systemen als in Mentalitäten liegen. Thiel sieht "fake culture wars" als Ablenkung von echten Herausforderungen - technologische Stagnation, wirtschaftlicher Niedergang, fehlende Innovation. Vances persönliche Erfolgsgeschichte verkörpert Thiels Glauben an individuelle Exzellenz und unternehmerisches Denken als Lösung. Die Förderung durch Thiel half Vance nicht nur finanziell, sondern prägte auch seine Weltsicht: Wandel kommt durch außergewöhnliche Individuen, nicht durch Massenbewegungen.
Trump als Ventil für Unausgesprochenes: Das Buch hilft zu verstehen, warum viele weiße Amerikaner sich von Trump vertreten fühlen: Er bricht mit den Konventionen der politischen Korrektheit und spricht aus, was viele denken, aber nicht zu sagen wagen. Seine Direktheit und Regelbrüche signalisieren: "Ich bin nicht Teil des Establishments, das euch vergessen hat." Für seine Wähler ist er authentisch gerade weil er polarisiert und nicht obwohl.
Fazit
Hillbilly Elegy ist keine klassische Biografie eines Politikers. Es ist ein wichtiges Zeitdokument, das authentische Einblicke in die Lebensrealität einer oft übersehenen Bevölkerungsschicht gibt und hilft, die politischen Entwicklungen in Amerika und den westlichen Ländern besser zu verstehen.
Lohnt sich das Buch? Absolut. Vance gibt einer vergessenen Schicht eine Stimme und zeigt eindrücklich, wie sich Deindustrialisierung konkret auf Menschen auswirkt. Seine persönliche Geschichte ist bewegend und macht abstrakte Probleme greifbar. Das Buch regt zum Nachdenken an, über Eigenverantwortung und Strukturen, über Aufstieg und Herkunft, über die Spaltung moderner Gesellschaften. Ein mutiges Buch, das wichtige Debatten anstößt.